Paris, Brüssel und Flucht in die Natur

Wieder wache ich in einem Hostel-Zimmer auf. Die Sonne scheint durch das Fenster. Kein Regen, keine Wolken. Traumhaft! Estrella und Riccardo machen sich auf zum Frühstück. Mir ist es unangenehm, weil ich ja nichts für die Übernachtung gezahlt habe. Also frühstücke ich meinen Proviant: luftgetrocknete Salami und Brot. Wie ich so auf meinem Lager sitze und esse, während mir die Sonne ins Gesicht scheint, fühle ich mich leicht und unbeschwert. Vielleicht freunde ich mich ja doch noch mit dieser Stadt an.

Ich packe meine Gitarre aus, um meiner guten Laune Luft zu machen und spiele meine Lieblingslieder. Estrella, die inzwischen vom Frühstück zurückgekehrt ist, schmettert lauthals mit.

Als ich grade mein Lieblingslied beendet habe, kommt ein weiterer Zimmergenosse vom Frühstück zurück. Er stellt sich mir als Boris vor. Er kommt aus Texas und reist seit seinem Ruhestand vor fünf Jahren durch Europa. In die Stadt Paris hat er sich vor einem Jahr verliebt. Seitdem lebt er hier im Hostel. Er sprudelt über vor Empfehlungen, was man in Paris unbedingt gesehen haben muss. Er sagt, die Einheimischen würden sich im Untergrund organisieren, um die besten Partys vor den Touristen zu verstecken, aber er kenne sie alle. Gestern sei er bei einer Tango-Tanz-Gruppe gewesen. Natürlich müsste man dazu eine kleine Tür in einem versteckten Hinterhof finden, genau dreimal anklopfen und das Code-Wort nennen. Auch gibt er mir den Tipp, ich solle unbedingt in einen Starbucks gehen, um süße Französinnen aufzureißen. Die zahlreichen Cafés seien nur für Touristen und die echten Pariser würden den ganzen Tag im Starbucks sitzen. Ich als Jugendlicher aus Deutschland müsse dort in Sekunden von wunderschönen Französinnen umringt sein, genau wie er natürlich. Aber das allerbeste an Paris sei immer noch das Essen. 
Es macht Spaß, Boris bei seinen euphorischen Beschreibungen von Paris zuzuhören. Trotzdem möchte ich das, inzwischen doch recht stickige Hostelzimmer verlassen, um die Stadt selbst zu erkunden.
Nachdem ich meinen Rucksack gepackt und mich von Estrella, Riccardo und Boris verabschiedet habe. Mache ich mich auf den Weg.

Erwischt

Dabei muss ich an der Rezeption vorbei. Hier sitzt nicht mehr der lockere Mann vom Vorabend, sondern eine ernst wirkende Frau. Sie stellt mir die gefürchtete Frage: „Do you want to check out?“ Ich zögere. Was soll ich sagen? „What is your name?“ Hakt sie nach. „I just visited my frieds from Mexico.“, antworte ich. „You are not allowed to enter the Hostel if you are not a Guest! Give me your ID! Have you slept here?“ Beim Blick auf die Überwachungskameras sehe ich schnell ein, dass Leugnen zwecklos ist. Ich überlege, wie viel Geld ich dabei habe. Es würde vermutlich reichen, um die Nacht zu bezahlen. Für die weitere Reise wird es allerdings ziemlich knapp. „Yes. My friends slept in one bed. I took the free one, they already payed.“ „Wait here! Don’t move! I will call the owner.“ Fünf Minuten später kommt sie mit dem Besitzer des Hostels zurück, einem typischen Zuhältertyp mit angeklätschten Haaren, endlos langen, etliche Male um das Handgelenk gewickelten strasssteinbesätzten Armbändern und Fistelstimme. „You have to pay the night!“ „I just finished school. I don’t have much money. I didn’t want to cause you any costs.“ „YOU - HAVE - TO -PAY!“ Ich gebe auf. 30€ kostet mich die Nacht. Ich bin sauer. Was mich am meisten ärgert: Der Hostelbesitzer ist voll und ganz im Recht. Eigentlich bin ich auch gar nicht wütend auf ihn. Er hat ein Unternehmen und denkt an seinen Profit, wie die meisten Menschen. Das kann ich ihm wohl kaum zum Vorwurf machen. Was mich wirklich ärgert ist, dass ich das Hostel schlichtweg nicht gebraucht hätte. Mein kleines, gemütliches Zelt, hätte mir völlig ausgereicht. Nur hat irgendwer mal beschlossen, dass Zelten illegal ist.

Flucht in die Natur

Von der Stadt habe ich die Nase voll. Ich will in die Natur, wo nicht alles bestraft wird, was „nicht normal“ ist. Beim Blick auf die Karte ist schnell ein Ziel gefunden: Echternach! In dem kleinen luxemburgischen Ort war ich früher oft zum Wandern. Dort sind die dichten Wälder durchzogen von Sandsteinplateaus und Schluchten. Die Landschaft ist unglaublich abwechslungsreich. Von Paris gibt es keine direkte Verbindung nach Luxemburg. Die am meisten befahrene Route führt wohl über Brüssel.

Mit dem Wissen, morgen oder übermorgen wieder in der Natur zu sein, kann ich Paris doch noch genießen. Auf den Bänken um die Sacré-Cœur sonnen sich lächelnde Touristen. Davor verdienen sich Schwarzafrikaner ein paar Euro, indem sie ihnen erzählen, die Wollfäden, die sie verkaufen, seien die Eintrittsbänder, ohne die man nicht passieren darf.

Kriminalität scheint in Paris ein großes Thema zu sein. Auf dem Weg zum Stadtrand laufe ich mehr als einmal an verkohlten Mülltonnen und Autowracks vorbei. Unter einer Brücke kommt ein junger Franzose auf mich zu und versucht mir ein iPhone 6 anzudrehen. Einmal, in einer kleinen Seitenstraße, renne ich sogar, weil mir ein Jugendlicher mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze hinterherläuft. Ich bilde mit ein, er würde mich verfolgen und jeden Augenblick überfallen.

Auch Drogen scheinen hier verbreitet. Der Straßenrand ist gepflastert mit leeren Plastiktütchen und Spritzen. Eine verwirrt blickende Gestalt stolpert mir entgegen und starrt mit verdrehten Augen in den Himmel, was mich spontan an einen Zombie-Film erinnert. Zum Zombie-Film-Ambiente passt auch die Essens-Auslage der kleinen Imbissbuden.

Grade diese Schattenseite Paris’ hat aber auch einen gewissen Reiz. Ich finde einen Markt, in einem Slum-ähnlichen Gebiet, bestehend aus kleinen Hütten, wo so ziemlich alles verkauft wird, was auch beim Zoll rumsteht. Ausgestopfte Tiere, verzierte Totenschädel, die wahrscheinlich aus den Katakomben unter Paris geklaut wurden, Teile von alten Waffen, Gemälde, Bücher und vieles mehr. Ich liebe diese kleinen chaotischen Märkte, die einem bewusst machen, dass man nicht im ordentlichen Deutschland ist. Beim Schlendern durch die kleinen Gassen vergesse ich die Zeit.

Ich verlasse den Markt, als mir schlagartig bewusst wird, wie spät es schon ist. Ich bin gut 15 Kilometer durch Paris gelaufen, um zur Autobahnauffahrt zu gelangen. Inzwischen ist es nach 2 und ich möchte heute noch weit kommen. An der Autobahnauffahrt schaue ich mich um. Die Auffahrt ist das genaue Gegenteil von der in Gent. In Gent kam es mir fast so vor, als wäre die Auffahrt zum Trampen gebaut worden, mit der praktischen Parktasche, wo Autos perfekt anhalten konnten. Hier ist das Anhalten unmöglich. Nicht nur, dass das Anhalten im erlaubten Bereich nicht möglich wäre, nein. Poller und Zäune entlang der Bürgersteige verhindern auch, dass Autos zum Anhalten halb auf den Bürgersteig fahren. Ich fühle mich wie in einem Käfig, einer riesigen Mausefalle, aus der es kein Entkommen gibt. Fieberhaft denke ich nach. Es hilft alles nichts. Ich muss die Straße entlang laufen und hoffen, dass ich irgendwo einen Ort finde, wo Autos anhalten können. Dann muss ich hoffen, dass tatsächlich jemand anhält und das dieser Jemand dann auch noch auf die Autobahn fährt. Die Autobahn in die richtige Richtung natürlich.

Doch ich finde nichts. Der einzige Ort, wo hier überhaupt Autos halten, ist die Ampel, in der Nähe der Auffahrt. Meine einzige Chance. Ich stelle mich vor die Ampel und frage bei Rot die haltenden Autofahrer, ob sie auf die Autobahn fahren. „Fragen“ ist fast zu viel gesagt. Mit Händen und Füßen versuche ich meine Absichten zu kommunizieren, denn: Mit Englisch kommt man hier nicht weit. Für meine nächste Reise als Tramper sollte ich mir auf jeden Fall die wichtigsten Vokabeln rausschreiben.

Zwei Stunden vergehen im Lärm und Gestank des Straßenrandes, zwischen hupenden Autos und quietschenden Reifen.

Um so dankbarer bin ich, als tatsächlich ein Fahrer anhält. Er nennt mir seinen Namen, fügt aber gleich hinzu, ich solle ihn Maxim nennen. Sein voller Name ist so unaussprechlich, dass ich ihn mir keine zwei Minuten merken kann. Maxim ist Laote. Im Alter von 7 ist er mit seiner Mutter nach Frankreich geflüchtet, denn auch wenn der Krieg der USA mit Südost-Asien als „Vietnam-Krieg“ bekannt ist, hatte nicht nur die vietnamesische Bevölkerung unter den massiven Folgen des Krieges zu leiden.

Maxim fühlt sich inzwischen sehr wohl in Paris. Er sieht Frankreich als seine Heimat an. Das Gespräch mit ihm ist sehr interessant. Leider bleibt es bei einer recht kurzen Mitfahrt. Maxim ist nur auf dem Heimweg über den Autobahnring in den Süden von Paris. Obwohl ich nur wenige Kilometer weit gekommen bin, habe ich das Gefühl, fast schon in Belgien zu sein. Auf der Autobahn bin ich bisher so gut durchgekommen, dass ich frei von Zweifeln bin, heute noch in Brüssel anzukommen.

Tatsächlich dauert es nicht lange, bis der Fahrer Jeff auf mich zu kommt und mir anbietet, bei ihm mitzufahren. Er hat grade ein paar seltene Autoteile von einem Schrotthändler in Paris gekauft. Jeff ist leidenschaftlicher Autobastler. Unentwegt zeigt er mir Fotos seiner Autos. Fünf Stück besitzt er zur Zeit, zuzüglich eines alten VW-Busses. Alle Autos sind steinalte Sammlerstücke, die er selbst wieder zum Laufen gebracht hat. Diese Leidenschaft will er auch an seinen fünfjährigen Sohn weitergeben. Dieser schläft in einem Holz-Replikat des VW-Busses. Natürlich in aufwendigster Handarbeit von Jeff selbst hergestellt. Ein halbes Jahr hat er für den Bau gebraucht, aber das Ergebnis ist beeindruckend. Selbst die Rundungen der Karosserie sind perfekt nachgebaut

Mit Jeff kann ich mich sehr entspannt auf Englisch unterhalten. Er will nächstes Jahr Urlaub in den USA machen und übt dafür.

Von der großen Raststätte, an der Jeff mich raus lässt, komme ich tatsächlich noch am selben Tag bis Brüssel. Die letzte Mitfahrt ist allerdings recht schweigsam, da die jungen Eltern mit der ca. einjährigen Tochter auf der Rückbank kein bisschen Englisch sprechen.

Geschafft! Es ist 23 Uhr. Ich bin hundemüde und möchte nur noch ins Bett fallen. Aber das will erst einmal gefunden werden. Ich laufe zum nächstbesten Hotel, das ich finden kann und Frage nach dem Preis für eine Übernachtung: „80 Euro.“ Scheint, als hätte ich ein recht schickes Hotel erwischt, auch wenn es von außen nicht danach aussah. Also laufe ich weiter, bis ich ein kleines heruntergekommen aussehendes Hotel in einer Nebenstraße finde. Ich bin mir erst nicht sicher, ob es überhaupt in Betrieb ist, da Baugerüste die Fassade bedecken. Glück gehabt, es hat offen. Das wird doch wohl bezahlbar sein. „70 Euro.“ Ist die Antwort auf meine Frage nach dem Preis. „For one night?“ Ich hoffe, es handle sich um ein Missverständnis. „70 Euro.“ Wiederholt der Hotelier. Ich frage ihn, ob er ein Hostel oder eine Jugendherberge in der Nähe kennt. Tatsächlich kennt er eine Unterkunft, die auch Mehrbettzimmer anbietet, ein Stück die Straße runter. Er beschreibt mir den Weg. Na endlich. Doch noch eine bezahlbare Unterkunft gefunden.
Ich habe mich wohl zu früh gefreut. Eine Nacht in einem 15-Bett-Zimmer kostet sage und schreibe 50€! Und das weder in einem schicken Hotel, noch in guter Lage. Heute Nacht werde ich im Zelt schlafen.

Ich nehme mir vor, einfach in Richtung der Autobahnauffahrt zu laufen, so lange bis ich einen Ort finde, wo ich übernachten kann. Vorbei geht es an mysteriösen Pinkelstationen, Fahrradgaragen und einem Schlösschen, dass wichtig aussieht und das ich vermutlich kennen sollte.

Nachts um halb 2, dem Zusammenbruch nahe, finde ich einen winzigen Park, in dem ein großer Baum steht, dessen Stamm mich ausreichend vor Blicken vom Weg schützt. Um nicht entdeckt zu werden, kann ich das Zelt jedoch nicht aufbauen. Ich breite es aus, wie einen Biwak-Sack und lege mich ohne Luftmatratze mit dem Schlafsack hinein. So kann ich morgen schnell und unbemerkt zusammenpacken und weiter in die wunderschöne Natur Luxemburgs trampen.


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