Ich wache auf. Die Nacht war klasse. Die 15 Betten im Zimmer sind alle in einzelnen Kabinen mit Nachttisch, Lampe und Steckdose. Es gibt schnelles W-LAN, warme Duschen und Frühstück mit frischen, belgischen Waffeln und Fairtrade-Kakao. Ein Traum! So langsam kann ich Flashpacker verstehen.
Nach dem ausgiebigen Frühstück, packe ich meinen Rucksack und bringe ihn in den Gepäckraum, um Gent zu erkunden, bevor ich mich auf den Weg Richtung Süden mache. Es regnet nicht, also lasse ich die Regenjacke im Rucksack.
10 Minuten später bereue ich dies bitter. Es gießt wie aus Eimern und ich bin klitschnass. Trotzdem bin ich gut gelaunt, denn die Genter Altstadt ist wunderschön. Gotische Kirchen, verschnörkelte Brücken und prunkvolle Boote gepaart mit modernen Bauwerken, die sich trotzdem gut in das Stadbild einfügen, hinterlassen bleibenden Eindruck.
Durchnässt wie ich bin, mache ich mich dennoch schnell wieder auf den Rückweg zum Hostel. In der Eingangshalle liegen ein paar Sitzsäcke. Auf einem lasse ich mich nieder, auf dem anderen trockne ich meine Jacke. Daune ist leider nicht für schnelles Trocknen bekannt, weshalb ich mich umso mehr über die Atmungsaktivität meiner Goretex-Jacke freue. Auf geht’s. Irgendwo nach Süden.
Ich habe Glück. Die Autobahnauffahrt ist nicht weit vom Hostel und direkt vor der Auffahrt ist eine kleine Parkbucht, als wäre diese Straße alleine zum Trampen erbaut worden.
Und sie tut ihren Zweck. Nach kaum fünf Minuten nehmen mich Michael und Helene mit. Sie haben eine Zeit in Frankreich gelebt und wollen nun ihre alten Freunde, kurz hinter der Grenze besuchen. Sie leben in Gent. Wie schon Jonatan und seine Freunde gestern, erzählen auch sie begeistert von dem Sommerfestival, das dort Ende Juli stattfindet. „Music everywhere, several artists and many, many happy people.“ So beschreibt es Helene. Michael fragt mich, ob ich noch andere Festivals in Belgien kenne. Dabei fällt mir natürlich spontan Tomorrowland ein, eines der größten Festivals weltweit. „I’ve never been there. I don’t like electro music. I prefere rock.“, sagt Michael. „I’ve been there and it was absolutely awesome!“, kommt die Antwort von Helene.
An einer kleinen Tankstelle, kurz vor der französischen Grenze, lassen mich die Beiden raus. In Italien wäre ich hier wohl erst einmal nicht weiter gekommen. In Belgien bin ich zuversichtlich. Ich bin bisher so gut durchgekommen, dass ich es selbst kaum glauben kann.
Wieder dauert es keine 15 Minuten und der nächste Fahrer bietet an, mich mitzunehmen. Er spricht weder Englisch noch Deutsch. „France?“ fragt er mich und zeigt auf die Straße. „Oui“, antworte ich. Eines von rund 5 Wörtern Französisch, die ich beherrsche. Er geht zurück zu seinem Auto und spricht mit dem Beifahrer. Dann winkt er mich zu sich herüber. Beide Männer sind mitten 20 und sehen aus, wie einem Gangsterfilm entsprungen. Als sie mir die Autotüre öffnen, schlägt mir eine Rauchwolke entgegen, die nicht nach Tabak riecht. Dies ist eines der Autos, in das man lieber nicht einsteigen sollte. Ich will mich nicht von Vorurteilen leiten lassen. Vielleicht bin ich auch einfach blind vor Abenteuerlust. Ich steige ein.
Ich möchte hier auf keinen Fall Reklame für Leichtsinn beim Trampen machen, doch die Entscheidung, mitzufahren, war die beste, die ich treffen konnte. Serim, der mich angesprochen hat und Nicola sind super zuvorkommend. Sofort bietet mir Serim Kakao und Sandwich von der Tankstelle an. Nicola, der sogar ein bisschen Englisch spricht, fragt mich interessiert nach meinen Reiseplänen. Die meisten Fahrer frage ich, was der Anlass ihrer Fahrt ist. Hier bin ich mir nicht sicher, ob ich es wissen will. Auf Nicolas Schoß stapeln sich Tütchen mit weißem Pulver, kleine Fläschchen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit und ein großer Beutel voll grüner Pflanzenteile.
Die Grenze passieren wir nicht auf der Autobahn, sondern auf einer kleinen holprigen Landstraße. Ich genieße meine Real-life-Breaking-Bad-Erfahrung, auch wenn ich sehr froh bin, dass wir nicht an der Grenze angehalten worden sind. Es wäre wohl schwierig geworden, einem französischen Polizisten zu erklären, was ich in diesem Auto verloren habe. Nicola möchte alles über Deutschland wissen und fragt mich, was ich von Berlin halte. Wir verstehen uns richtig gut, weshalb ich der Einladung zum Mittagessen gerne nachkomme.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Vielleicht ein kleines, düsteres Loch, mit grimmigem Türsteher und nervösen Leuten, die um einen runden Tisch sitzen und hektisch ihr Geld zählen. Nichts davon trifft zu. Nicolas Haus ist groß, modern weiß gestrichen und trotz des Regenwetters sehr hell. Gegenüber der schwarzen Ledercouch, steht ein übergroßer Fernseher. Bei Frikadellen und Pommes reden wir über Deutschland und Frankreich. Beide sind sich einig. Der Norden Frankreichs ist um einiges offener und gastfreundlicher, als der versnobte Süden. Die Aussage überrascht mich. In Italien ist es genau umgekehrt. Andererseits kann ich mir ein Szenario wie dieses nur schwer in Norditalien vorstellen.
Während wir so sitzen, reden und essen, kommen und gehen Nicolas Bekannte. Inzwischen ist es halb 6. Die letzten drei Stunden sind wie im Flug vergangen. Serim und sein Freund Marco müssen noch etwas erledigen und bieten an, mich auf dem Weg wieder an einer Raststätte rauszulassen. Auf dem Weg halten wir nur noch kurz bei Marco. Um noch kurz "etwas zu holen", erklärt er. In der Wohnung bleibt es natürlich nicht beim kurzen abholen und gehen, denn auf dem Tisch liegt ein Tütchen weißes Pulver und daneben steht ein kleines Fläschchen, dass aussieht wie ein Klopfer. Ich habe das Gefühl, dass es sich auch hier nicht um Mehl und Wasser handelt. Dank Hollywoodklischees, bin ich fast überrascht, als Serim und Marco die Line mit einem aufgerollten Blatt Papier, statt Geldschein ziehen. Als sie noch ein paar Verschlusskappen der klaren Flüssigkeit hinterher getrunken haben und nun meinen, endlich bereit für die Weiterfahrt zu sein, wäre ich am liebsten gelaufen. Marco versichert mir, dass er so am besten fahren kann.
Tatsächlich kommt es zu keinem Unfall. Er übersieht nur drei rote Ampeln und nimmt vier Autos die Vorfahrt. Wenn Marco sagt, dass er in diesem Zustand besser fährt, als normal, will ich nicht wissen, wie eine normale Fahrt bei ihm im Auto aussieht.
Auf dem Seitenstreifen landen wir dann aber doch noch. Der Tank ist leer. Ein letztes Mal versuchen die Beiden es mit Anschieben, während ich auf dem Fahrersitz sitze, um den Wagen zu starten. Ohne Erfolg. Sie tragen mir auf, den Wagen zu bewachen, während sie zur Tankstelle gehen, um Sprit zu hohlen. Etwas mulmig wird mir dabei schon. Ich überlege, wie ich der Polizei bei einer Fahrzeugdurchsuchung klar machen kann, dass es sich nicht um meinen Wagen handelt, ich die Fahrer nicht kenne und nur durch Zufall hier am Steuer gelandet bin. Ich würde mir wahrscheinlich selbst nicht glauben.
Meine Sorge ist jedoch unbegründet. Marco und Serim kommen eine halbe Stunde später wieder, mit einer Wasserflasche voll Benzin und einer abgesägten Flasche als Trichter. Das reicht dann aus, um die nächste Tankstelle zu erreichen und voll zu tanken. Als wir die Raststätte erreichen, an der mich die beiden rauslassen, bin ich froh, zu Serim ins Auto gestiegen zu sein. Langweilig waren die letzten Stunden auf jeden Fall nicht.
Ein Straßenschild verrät mir, dass ich schon weit gekommen bin. Nur noch 200 Kilometer bis Paris.
Nicht, dass ich ein besonders großer Fan von Paris wäre, aber an dieser Stadt ist praktisch kein Vorbeikommen. Wie eine fette Krake sitzt sie in Frankreich und streckt ihre Fangarme über das ganze Land aus. Da es bereits dämmert und gleich hinter der Raststätte ein freies Feld liegt, spiele ich mit dem Gedanken, einfach mein Zelt aufzubauen und mich schlafen zu legen. Diesen Gedanken verwerfe ich jedoch schnell. Der Ehrgeiz hat mich gepackt. Ich werde heute noch in Paris ankommen!
Das Wetter ist bescheiden. Es regnet zwar grade nicht, aber dafür ist es so stürmisch, dass mein Rucksack bei einer Böe einige Meter über den Boden schlittert. Im Windschatten der Raststätte suche ich Schutz. Da ich hier allerdings fast unsichtbar stehe, entscheide ich mich, etwas offensiver zu werden. Ich frage die Fahrer, die aus der Raststätte kommen, ob sie mich mit nach Paris nehmen können. „Die Fahrer“ ist eigentlich zu viel gesagt. Direkt beim ersten Versuch bekomme ich die Antwort „Sure.“ Eduardo lebt nicht in Paris, sondern ein ganzes Stück westlich, wie ich später herausfinde. Er sagt, er habe spontan Lust auf einen Roadtrip bekommen. Gegen einen Umweg habe er nichts. Eduardo ist Softwareentwickler, liebt Deathmetal und spielt E-Gitarre. Er erinnert mich sehr an Alessandro aus Ancona, ebenfalls Softwareentwickler und Metal-Gitarrist.
Er erzählt, dass er arbeitslos ist und bei seinen Eltern wohnt. Er ist grade auf dem Rückweg von einem Bewerbungsgespräch in der Stadt, in der er eine Zeit lang gelebt hat. Weil dort alle seine Freunde sind, hofft er sehr, den Job zu bekommen, um zu ihnen ziehen zu können.
Wir passieren die Stadtgrenze von Paris. Sofort bietet sich mir der Anblick, den ich von meinem letzten Paris-Urlaub im Kopf hatte. Heruntergekommene Häuser, Obdachlose, die sich in Scharen unter den Brücken zusammendrängen, Polizisten, die einen Mann gegen die Wand des Bahnhofes pressen. Als Eduardo das Fenster einen Spalt öffnet, um seine Kippe rauszuschmeißen, schlägt mir ein Geruch von Urin und Verbranntem entgegen.
Er fragt mich, ob ich eine konkrete Adresse habe, zu der ich möchte. Ehrlich gesagt habe ich mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht, wo ich die Nacht verbringen werde. Ich habe zwar mein Zelt bei, aber Zelten unter dem Eiffelturm wird von der Polizei sicher eher ungern gesehen. Ich beschließe, einfach auf gut Glück in die Stadt zu ziehen. Ich bitte Eduardo, mich am Eiffelturm rauszulassen.
Bei meiner Ankunft ist es schon spät. Der Eiffelturm ist beleuchtet und ragt gewaltig wie ein Berg vor mir in den Himmel auf. Trotz der späten Stunde sind noch einige Touristen unterwegs, die sich eifrig gegenseitig fotografieren oder Souvenirs von schwarzafrikanischen Händlern kaufen.
Ich laufe eine Weile umher, in der Hoffnung, vielleicht doch noch einen Ort zu finden, wo ich unbemerkt mein Zelt aufbauen kann. Wie kommen Menschen eigentlich zu der Überheblichkeit, Anspruch auf ganze Länder zu erheben? Sich irgendwo zum Schlafen niederlassen, sollte doch das selbstverständlichste Grundrecht der Welt sein.
Ich komme an einem kleinen Klohäuschen vorbei. Vor der Tür wartet ein südländisch aussehender, Anfang 20-jähriger Mann auf seine Freundin, die grade auf der Toilette verschwunden ist. Ich frage ihn, ob er ein günstiges Hostel in der Nähe kennt. Er antwortet, dass ihr Hostel in der Nähe vom Montmartre sei, aber er könne schauen, ob es etwas hier am Eiffelturm gäbe. Schnell hat er die App geöffnet, zeigt mir die Punkte auf der Karte und liest die Preise vor: „150€, 170€, 120€…“. „I’m afraid, this is to much for me. What do you pay?“ „Our Hostel is 24€ per night.“ „May I come with you?“ „Sure!“. Gesagt getan. Wir steigen in die Metro. Mit 1,80€ ein sensationell günstiges Fortbewegungsmittel. Unterwegs unterhalte ich mich mit Estrella und Riccardo. Sie kommen aus Mexico. Estrella ist im Rahmen ihres Studiums ein halbes Jahr in Spanien. Ihr Freund ist sie für eine gemeinsame Europareise besuchen gekommen. Heute Paris, morgen London. In zwei Wochen, wollen sie alle großen Städte Europas abklappern.
Estrella sagt, ich könne ihr Bett haben. Sie schlafen sowieso in einem. „I think no one will notice it.“ Ich überlege kurz. Warum eigentlich nicht? Ohne uns etwas anmerken zu lassen, marschieren wir freundlich grüßend am Checkin vorbei. Dabei kommt Abenteuerfeeling auf. Ich entschließe mich, im Schlafsack zu schlafen, statt die Laken zu verwenden, um meinen Gastgebern keine Kosten zu verursachen.
Vor dem Einschlafen denke ich über die Erlebnisse der letzten beiden Tage nach. Wow, das waren wirklich nur zwei Tage! Ich erlebe so viel, dass es mir vorkommt, als sei ich schon seit Wochen unterwegs. Mir schwirrt der Kopf. Die Erlebnisse waren unglaublich, aber ich habe das Gefühl, dass ich so viel auf einmal nicht verarbeiten kann. Vielleicht sollte ich doch langsamer reisen?
Mit gemischten Gefühlen schlafe ich im Hostell-Bett ein.
Wärst du zu Serim und Nicola ins Auto gestiegen? Schreib es in die Kommentare!
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